Eingebildete Offenheit

Ich war mir sicher. Deutschland ist offen für Fremde. Deutsche, die man als Rucksacktourist traf, vermieden andere Deutsche, weil sie sich auf das Land einlassen und nicht mit Deutschen Zeit verbringen wollten. Deutschland war der weltoffene Gastgeber für die WM 2006. Die ganze internationale Presse überschlug sich vor Lob für unerwartete Freundlichkeit im Land des dritten Reichs.

Unabhängig von dieser völlig unreflektierten persönlichen Wahrnehmung war ich mir aber vor allem sicher: Unternehmen sind angesichts zunehmender Probleme, gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, gezwungen, Ausländerinnen und Ausländern gegenüber aufgeschlossen zu sein und die Auswahl neuen Personals nicht ans Deutsch-Sein zu knüpfen.

Die schlechte Nachricht: Wir Deutschen bilden uns einen Großteil dieser Offenheit ein. Wir gefallen uns selbst in unseren häufig sehr deutschen, aufgeklärten, politisch korrekten Freundeskreisen. Wir erzählen Zugezogenen, dass sie sich nur bemühen (und natürlich Deutsch lernen) müssen und dann werden sie die gleichen Chancen wie jede oder jeder Deutsche haben.

Werden wir dann mit Gegenbeispielen, gar mit einer alternativen, wesentlich negativeren Erzählung konfrontiert, reagieren wir mit Unverständnis. Fast agressiv weisen wir Erfahrungen von Menschen mit anderer Hautfarbe, anderem Akzent oder anderem Pass, die in Deutschland leben, zurück. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Es kann nicht sein, dass das Land, von dem man sich in seiner deutschen Akademikerwelt ein so positives Bild erzählt hat, von anderen so ganz anders wahrgenommen wird.

Doch wie kann es sein, dass die Wahrnehmungen so auseinandergehen? Wie kann es sein, dass Studien schon seit Jahrzehnten ausländerfeindliche Tendenzen bei einem Drittel der deutschen Bevölkerung identifiziert haben und trotzdem die Überraschung bezüglich der Zustimmung zu Positionen der AfD auch nach mehreren Jahren in Kommentaren und Leitartikeln nicht verschwunden ist?

Die erwartbare Erklärung wäre: Es gibt in der Provinz und in der sozial schwächeren Schicht Menschen, die ausländerfeindlich sind, die man in seinem städtischen Akademikerleben gar nicht wahrgenommen hat. Doch ist die „angry white man“-These, die alles Unerklärliche auf angeblich frustrierte Menschen in Regionen schiebt, in denen man selbst nicht lebt, in Bezug auf Offenheit gegenüber Fremden nicht einfach nur eine bequeme Ausrede? Sie ermöglicht die kognitive Dissonanz zwischen dem Anspruch, dass man selbst und das eigene Umfeld den hohen Standards von Offenheit völlig entsprechen, und der Realität, dass dies nicht der Fall sein könnte, aufzulösen. Die Nicht-Offenheit wird ausgelagert auf Menschen, die man nicht kennt und deren Einstellungen und Lebensstil man ohne weiteres Nachdenken abwertet. Häufig tun dies sogar Akademiker, die selbst auf dem Land aufgewachsen sind, die selbst Familie in den angeblich so hinterwäldlerischen Landstrichen haben.

Viel unangenehmer wäre es anzuerkennen, dass in der eigenen Gruppe, also unter Menschen mit guter Ausbildung, bei Menschen in Entscheidungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung, bei Menschen mit denen man sich selbst identifiziert, Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus existieren. Noch unangenehmer wäre, sich selbst zu hinterfragen, ob man selbst solch Denkmuster aufweist.

Es gibt zwei Wege bei diesem Thema als Deutscher seine naive, übermäßig positive Sicht des eigenen Landes in Frage zu stellen. Entweder man verbringt ausreichend Zeit mit einem Nicht-Deutschen bzw. einem Deutschen, der nicht „deutsch“ aussieht, und lässt sich von dessen oder deren Alltagserfahrungen berichten. Oder man beschäftigt sich genauer mit dem, was es inzwischen an Studien und Veröffentlichungen gibt.

Für mich persönlich war der Auslöser mich mit meiner eigenen Naivität näher auseinanderzusetzen meine Frau Daniela. Sie kam nach Deutschland als Akademikerin mit Berufserfahrung aus Rumänien. Sie lernte schnell und gut Deutsch. Ein wunderbarer Fall für gelungene Integration. Und doch erlebte sie Diskriminierung im Alltag, bei der Jobsuche und am Arbeitsplatz. Manche Erfahrungen sind für sich alleine unbedeutend, aber sie kommen häufig vor: Da kommt ein Kunde in den Betrieb meiner Frau, beschwert sich bei ihr und fragt dann nach dem Chef. Dass sie dieser Chef ist, führt zu ungläubigem Staunen. Oder jemand fragt penetrant nach dem Herkunftsort, was manchmal neugieriges Interesse darstellt, aber häufig so wirkt, als wolle das Gegenüber die Person in das eigene Bewertungssystem einsortieren. Andere Erfahrungen sind selten, aber schwer zu ignorieren: Dazu gehört ein Bewerbungsgespräch, in dem der Job von der zukünftigen Vorgesetzten schon versprochen wird, nur um anschließend eine Email zu erhalten, in der sie sich mit Verweis auf ihren Chef entschuldigt, der lieber eine Deutsche wollte. Dazu gehört auch der Tipp eines Deutschen, meine Frau, die Akademikerin mit Master-Abschluss ist, könne doch in einer Gärtnerei anfangen. Und natürlich gab es auch die offenen und versteckten Hinweise, dass eine Rumänin es ja bestimmt auf mein Geld abgesehen habe.

Meine Naivität war nach diesen Erfahrungen und Beobachtungen, die auch Menschen meines unmittelbaren Umfelds betrafen, dahin. Meine Skepsis gegenüber dem eigenen Land und den sozialen Selektionsmustern war geweckt. Und es finden sich ganz unterschiedliche Quellen, die die subjektiven Eindrücke bestätigen:

  • In einer repräsentativen Umfrage stimmen 35,6% manifest, weitere 28,1% latent zu, dass „die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ ist. Nur eine Minderheit der Deutschen lehnt eine solche ausländerfeindliche Aussage also in Befragungen ab! Ähnlich ist es bei Aussagen wie „die Ausländer kommen nur hierher, um den Sozialstaat auszunutzen“ (Studie, 2018, siehe Grafik Seite 77)!
  • Manifeste Ausländerfeindlichkeit findet sich zwar in stärkerem Ausmaße bei Arbeitslosen, bei Menschen ohne Abitur und bei Menschen im Ruhestand, aber in geringeren Ausmaß in allen soziodemographischen Gruppen. Gerade bei gut gebildeten Befragten muss zudem ein erheblicher Anteil vermutet werden, der die tatsächliche Einstellung nicht offenbart, weil diese „sozial unerwünscht“ ist.
  • Personalabteilungen von Unternehmen denken in Stereotypen und diskriminieren auf Grund von Präferenzen hinsichtlich vermuteter kultureller Werte (Studie, 2018).
  • Es gibt beunruhigende Anzeichen für einen „institutionellen Rassismus“ in unseren Ermittlungsbehörden und der Verwaltung, die der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler im Schlussplädoyer des NSU-Prozesses offenlegt (Buch, Empörung reicht nicht, 2017).

So offen, wie ich mir mein Deutschland eingebildet hatte, ist es also nicht. Weder in der Breite der Gesellschaft, noch unter Gebildeten und Entscheidungsträgern. Doch Mehmet Daimagüler hat klug bemerkt: Noch schlimmer als Rassismus, ist es in Deutschland Rassismus zu beschreiben. Das hat er an zahllosen Beleidigungen in den sozialen Medien erlebt. Das haben auch die Autoren der Studie zu ausländerfeindlichen Einstellungen geschildert. Die Phalanx derer, die lieber einen Rassisten verteidigen, als „die Deutschen“ zu kritisieren, scheint stark zu sein.

Jede und jeder von uns kann kleine und große Dinge tun, um ausländerfeindlichen Tendenzen entgegenzutreten und die Offenheit gegenüber Fremden zu stärken – die eigene und damit in kleinen Schritten auch die unserer Gesellschaft.

Die kleinen Dinge betreffen den Alltag: Man wird Zeuge von fremdenfeindlichem Verhalten, und schaut nicht weg, sondern schreitet ein. Am Mittagstisch hört man abwertenden Aussagen über bestimmte Volksgruppen und hört nicht weg, sondern widerspricht. Und noch harmloser, aber total wichtig: Wir suchen das Gespräch mit denen, die mit uns leben oder arbeiten, für uns Dienstleistungen erbringen oder jeden Morgen mit uns im Bus sitzen.

Die großen Dinge hängen von unseren Einflusssphären ab: Pflegen wir Freundschaften mit Menschen mit anderer Geschichte und Herkunft? Setzen wir uns für Offenheit in der Einstellungspolitik im eigenen Unternehmen ein? Äußern wir uns öffentlich, sei es in den sozialen Medien oder auf Demonstrationen? Und schließlich: Welche Rolle spielt die Offenheit gegenüber Fremden bei unserem Wahlverhalten? Bestrafen wir Politiker, die die niederen Instinkte ansprechen, die dadurch gewinnen wollen, dass ein Teil der Bevölkerung verliert?

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