15. November 2016
Von Nordsiebenbürgen nach Franken: Arnim Emrichs Romandebüt „Der Fremde“
Der 1982 in Baden-Württemberg geborene Arnim Emrich erzählt die Lebensgeschichte dieses Großvaters (1928 in Obereidisch bei Sächsisch-Regen geboren) so authentisch, als wäre er dabei gewesen. Woran das liegt, wird im Nachwort des Autors erkennbar: Er hat die Urheimat seiner Vorfahren nicht nur mehrfach besucht, sondern ein Jahr lang in Rumänien gelebt, um Land und Leute kennen zu lernen und Fakten zu recherchieren. Zur Wahrhaftigkeit der erzählten Erlebnisse trägt bei, dass Emrich den Großvater aus der Sicht des heranwachsenden Thomas („Timm“) berichten lässt. Ein nicht einfaches Verfahren, weil der Autor darauf achten muss, dass er den damaligen altersgemäßen Erfahrungshorizont berücksichtigt und keine späteren Erkenntnisse einfließen lässt. Dies gelingt Emrich insofern gut, als er immer wieder deutlich macht, wie wenig die Kinder und Jugendlichen, aber auch die meistens Erwachsenen in ihrem abgeschiedenen Dorf von den politischen Ereignissen und deren Auswirkungen erfuhren bzw. verstanden.
Die Handlung beginnt im Jahre 1936, als sich die Politik Hitlers auch auf die sogenannten „Volksdeutschen“ in Siebenbürgen auszuwirken beginnt. Mit dem idyllischen Landleben in Obereidisch ist es vorbei, als Nordsiebenbürgen durch den Zweiten Wiener Schiedsspruch (1940) an Ungarn fällt. Der junge Timm muss nun bei Wehrübungen der ungarischen „Levente“, einer HJ-ähnlichen Jugendtruppe, mitmachen. War er es bisher gewohnt, mit seinem Vater auf den Märkten Umgang mit Rumänen, Ungarn, Juden und Zigeunern zu pflegen, verschärfen sich nun die Spannungen zwischen den Nationalitäten.
Der Einfluss der „reichsdeutschen“ Institutionen (Volksbund, Ortsführer, HJ) auf die Mentalität einiger Honoratioren (z.B. den Pfarrer) wirkt sich negativ aus. Die ungarischen „Pfeilkreuzler“ organisieren die Verhaftung der Juden, die – auch von jungen Sachsen – in Lagern bewacht werden müssen. Timm kann seinem jüdischen Freund Simon vor dem Abtransport noch heimlich ein Brot zustecken, doch dann hört er nie wieder von ihm. Timms vier ältere Brüder werden eingezogen, die Front rückt 1944 näher, die Niederlage der Deutschen zeichnet sich ab. Die Flucht der Dorfbewohner mit Hilfe der Wehrmacht in Richtung Westen bildet den überaus spannenden Kern des Geschehens. Die Ankunft in Thüringen, das von den Amerikanern an die Russen übergeben wird, die Erfahrungen des Erzählers als Helfer auf deutschen Bauernhöfen, die Flucht der Familie über die Grenze im Jahre 1947 und der schwere Neuanfang in Franken können hier nur skizziert werden.
Der Ich-Erzähler schildert sehr anschaulich, wie die Maschinerie von Politik und Krieg die Existenzgrundlage und Lebensplanung ganzer Familien zerstört. Zu bemängeln ist leider der Gebrauch sprachlicher Anachronismen: Damals wurden Wörter wie „fokussieren, entspannen, starten und stoppen, abspeichern, Energie tanken, super“ u.a. Ausdrücke von Siebenbürger Sachsen nicht verwendet. Auch andere Sprachschnitzer wirken störend.
Insgesamt ist aber dieses Buch sehr zu empfehlen, vor allem für die Enkelgeneration, die das Leben ihrer Großeltern, die anfangs in Deutschland als „Fremde“ nicht immer willkommen waren, vielleicht nur vom Hörensagen kennen. Ein geeignetes Geschenk zu Weihnachten!
Konrad Wellmann
Arnim Emrich: Der Fremde – Auf der Suche nach Heimat. Roman, Landhege-Verlag, Schwaigern, 2016, 336 Seiten, 12,95 Euro, ISBN 978-3-943066-45-6
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